Baldiga – Entsichertes Herz

  • Einer, der fehlt: Baldiga – Entsichertes Herz. Der Film.
  • Im Unterschied zum 2019, also vor fünf Jahren auf die Leinwand gebrachten Films „Rettet das Feuer“ des Regisseurs Jasco Viefhuis, widmet Markus Steins (Regie)und Ringo Röseners (Buch) Film Baldiga – Entsichertes Herz seine Aufmerksamkeit nicht nur jener durch AIDS beeinträchtigten Phase im Leben ihres Protagonisten. Weil beide sich auf alle Facetten seiner Persönlichkeit beziehen. In einem Film, mit dessen Uraufführung ich am 21. Februar 2024 im Rahmen der Berlinale-Reihe Panorama auf der Leinwand des Hauses der Berliner Festspiele konfrontiert war. Vor vollem Haus und zahlreich anwesendem Publikum, dessen Beifalls die Filmemacher sicher sein durften.
  • Statt sich überwiegend auf die Phase der HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung Jürgen Baldigas zu beziehen und auf seine bemerkenswerte, herausragende Rolle eines AIDS-Aktivisten, ist auch die nicht geringer zu veranschlagende Vorgeschichte der Biografie dessen berücksichtigt, der 1959 in Essen im Ruhrpott geboren wurde und aufgewachsen ist. Um sich 34 Jahre später – und zwar am 4. Dezember 1993 – vom Leben zu verabschieden. Mittels an sich selbst vollzogenen Suizids. Weil es ihm nicht mehr lebenswert schien.
  • Als Sohn eines Bergmanns und einer Mutter – die das Schicksal aller Mütter von schwulen Söhnen teilte, im Hinblick darauf, im Fall ihrer Erziehung alles falsch gemacht zu haben – war es Jürgen Baldiga vorbehalten, nach seinem Wechsel nach Westberlin in dessen schwule Subkultur einzutauchen. Um seinen Eltern und drei Schwestern den Einduck zu vermitteln, jeden Grund und Anlass zu haben, sich über die Abkehr ihres Sohnes und Bruders zu beklagen.
  • Welcher nach seiner Ankunft hier als ausgebildeter Koch in der Küche des Szenerestaurants Mendelsohn am Charlottenburger Lehniner Platz im Einsatz war. Bekannt dafür, dass sein Personal auf Rollschuhen unterwegs war. Als Kreuzberger Hinterhöfe noch jenen im Prenzlauer Berg und Friedrichshain entsprachen. Dank mit Kohleheizungen ausgestatteter Wohnungen und ohne Bad, sowie Toilette auf halber Treppe. Weshalb regelmäßiger Smogalarm angesagt war.
  • Ausgesttattet mit dem unbedingten Willen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die eines Neustarts zu besinnen, hatte Jürgen Baldiga kein Problem damit, keinerlei Zweifel daran zu lassen, erste schwule Kontakte als Stricher in der Umgebung des Essener Haupbahnhofs absolviert zu haben.
  • Auch in Berlin dazu angetan, damit Furore zu machen. Beispielsweise im Fall derer, die im Schöneberger Café Anderes Ufer mit ihm konfrontiert waren. Schwankend zwischen dem Eindruck einer zuweilen an ihm nachvollziehbaren Schüchternheit, die sich bald verflüchtigen sollte, und ihm unterstellter Arroganz, durch jene, die er als Objekt ihrer Begierde hat abblitzen lassen. Um nicht zu zögern, ihn mittels verunglimpfender Kritik an ihm herabzusetzen. Während Jürgen anklingen ließ, sich nicht ausschließlich auf sein hinreißendes Erscheinungsbild zu beziehen, sondern lieber stattdessen auf an ihm nachvollziehbare künstlerische Absichten und Interessen. Wie sie bereits zum Auftakt meines Kontakts mit ihm spürbar waren.
  • Sowohl im Rahmen unserer Begegnung im Anderen Ufer, als auch in dem der gemeinsamen Teilnahme am ersten Berliner CSD am 30. Juni 1979. Als willkommener Gelegenheit, nicht nur am Kontakt mit ihm anzuknüpfen, sondern diesen zu vertiefen. Mit ihm auf der Jagd danach, seinem Leben einen anderen, als dem in die Wiege gelegten Sinn abzugewinnen. Und sich im Umgang mit anderen nicht ausschließlich auf den körperlichen Aspekt reduziert zu erfahren. Wie es zum Auftakt seines Aufenthalts hier vielleicht noch der Fall war.
  • Vor dem Hintergund Westberlins – als einsamer Insel im Meer der Roten. Den Machthabern und Repräsentanten des Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden. Auch in seiner Funktion als Schaufenster der freien Welt und Aushängeschild der Bonner Republik nachvollziehbar. Manchen anregend, sich duch den Aufenthalt hier, dem Zugriff westdeutscher Militärbehörden zu entziehen. Um am 17. 5. geborenen Hundertfünfundsiebzigern hingegen den Eindruck eines Eldorado und Mekkas sowie heißen Pflasters zu vermitteln. Wovon sich auch Jürgen hat vereinnahmen lassen. Im Wechsel zwischen seiner täglich zu absolvierenden Arbeit und dem regelmäßigen Aufenthalt im offen schwulen Café in der Schöneberger Hauptstraße am Kleistpark, ohne Klingel an der Tür und Spions in ihr. Sowie dem SchwuZ oder Buchladen Eisenherz.
  • Nicht länger darauf angewiesen, einen an Land zu ziehen, um die Nacht mit ihm im Bett zu verbringen. Westberlin verfügte damals über zahlreiche Klappen und Bars ohne Sperrstunde, samt Darkrooms und Parks – als Gelegenheit zum Kontakt miteinander. Die auch Jürgen in Anspruch nahm. Ohne zu diesem Zeitpunkt bereits über eine ansatzweise Ahnung zu verfügen, im Fall des SchwuZ in der Kulmerstraße 20a, im dritten Hinterhof unterm Dach, davon ausgehen zu dürfen, in ihm mit dem Treffpunkt und Wohnzimmer jener Tunten konfrontiert zu sein, die ihm später, als er darauf angewiesen war, als Familie dienen sollten.
  • Unter denen mancher ältere beispielsweise, wie ich, dank Altersunterschieds von 15 Jahren, bereits 1971 an der Gründung der HAW und 1973 am Tuntenstreit beteiligt waren. Und im Sommer 1977 an der Gründung des SchwuZ. Als dem Ort der Begegnung derjenigen, denen es vobehalten war, den Laden am Laufen zu halten. In Gestalt von Melitta Sundström Ovo Maltine, Tima, der Göttlichen, Bev Stroganoff oder Ichgola Androgyn. Die dort als Ladys Neid im Einsatz waren. Um auf ihre Weise dazu beizutragen, der inzwischen gewachsenen queeren Community heute als Leuchtturm-Projekt zu dienen. Welches ausnahmslos allen ermöglicht, sich dort willkommen zu fühlen. Um niemanden auszuschließen. Weil der Himmel groß genug für alle ist.
  • Als der Ort im Neuköllner Rollbergkiez, dem ein hinreißendes Foto Jürgen Baldigas dazu dient, die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Vor dem Hintergrund der mit dem Aufenthalt hier verbundenen Erfahrung, im Verlauf von 15 Jahren – also bereits ab 1979 und nicht erst ab 1984, unterm Eindruck seiner HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung, ab dann jedoch verstärkt – zum fotografischen Chronisten der queeren Berliner Community zu mutieren.
  • Darauf eingestellt, sich im Kontakt mit seinen Protagonisten nicht auf gelackte Typen in Hochglanzmagazinen zu beziehen, sondern solchen auf Augenhöhe zu begegnen mit denen er als Stricher, Tunten, Dragqueens, obdachlose Penner oder Drogenabhängige in Kreuzbergs und Neuköllns Straßen und Plätzen konfrontiert war. Um ihnen, auf der Suche nach sich selbst, nicht länger als der blutjunge Poet der ersten Berliner Jahre zu begegnen, sondern als derjenige, dem möglicherweise, wie anderen in jener Phase, ebenfalls das Marseiller Manifest des schwulen literarischen Aktivisten Marco Lemaire als Orientierung diente.
  • Im Abschied vom manchen traumatisierenden Versteckspiel. Auf der Grundlage der Bereitschaft, unkeusche Liebschaften zum Anlass zu nehmen, sich ihrer als betörenden und die Fantasie anregenden und beflügelnden fotografischen oder literarischen Funkensymphonien zu bedienen. Um schließlich auch damit zur Sichtbarkeit unserer homosexuellen Orientieung und schwulen Identität beizutragen. Als der Voraussetzung zum unverklemmten Umgang miteinander. Und Auftakt zum Abschied von allen als Jürgay herausgegebenen Bilderheften und einem ersten schmalen Band mit Collagen und Gedichten: Breitseite. Sowie von der Rolle des Coverboys der Berliner Schwulen Zeitung (1980). Mit Titelbild des Fotografen Helmut Röttgen. Sowie (m)eines Interviews mit ihm aus demselben Anlass: Ich bin mein eigener Gott!
  • Sich dessen ebenso wie des Kontakts und der Beziehung mit dem Maler Salomé als Ermutigung bedienend, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren: Junge, mach das! Du kannst das! Zur Stärkung der Entschlossenheit, sich trotz aller damit verbundenen Höhen und Tiefen nicht kleinkriegen zu lassen.
  • Im Verein und Kontakt mit allen, deren Schicksal er teilte und die wir ebenfalls vermissen. Als auf dem Schlachtfeld der Liebe und nicht des Hasses Gefallene. Die u.a. im Alten Sankt Matthäus Kirchhof in Schöneberg über einen Ort der Erinnerung an sie verfügen.
  • Während mir ein Foto Jürgens als Stütze der Erinnerung an eine letzte zufällige Begegnung mit ihm dient, in der Gay City Sauna in der Keithstraße. Mit uns beiden, mit jeweils einem Handtuch um die Hüften und einem Glas Bier an den Lippen, an der Bar. Als der Raum um uns sich rasch leerte. Im Bewusstsein, dass keinem der Anwesenden daran gelegen war, mit ihm in Kontakt zu treten. Als Berührungsangt mit ihm nachvollziehbar. Dem seine sichtbare HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung samt Kaposisarkoms als unfreiwilliger, qualvoll an ihm nachvollziehbarer Ritterschlag diente.
  • Markus Steins und Ringo Röseners Verdienst, als Regisseur und Autor dieses großartigen Films, besteht nicht zuletzt darin, uns ungeschminkt, eindringlich und mit viel Empathie mit dem sehr menschlichen und berührenden Gegenstand ihres biografischen Films bekannt zu machen. Der leider erst ab kommendem Herbst im Kino zu besichtigen sein wird.

Homosexualität und Tod

Zwischen beiden Erfahrungen war immer eine teilweise tödliche Nähe nachvollziehbar. Zu der in Deutschland der seit 1871 gültige, 1935 durch die Nazis verschärfte § 175 beigetragen hat. Um nicht nur sexuelle Beziehungen von Männern unter Strafe zu stellen, sondern nach verbüßter Zuchthausstrafe für ihren Aufenthalt in KZs und Arbeitslagern zu sorgen. Was nicht jeder der zahlreich davon Betroffenen überlebt hat. Als Träger des rosa Winkels, als dem ihn stigmatisierenden Erkennungszeichen.

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Drei Tage im November: 40 Jahre „Workshop Schreibende Schwule 1978“. Ein Rückblick.

„Als Schwule hätte man euch unter Hitler alle vergasen sollen!“ – lautete die extreme Reaktion zufälliger Passanten auf dem Kudamm in Berlin – anlässlich der ersten Demo von Lesben und Schwulen zu Pfingsten 1973 . Weiterlesen

„Vegane Blutwurst“ oder Shitstorm gegen Lesben

Anlass: Vorstellung einer Buchneuerscheinung des Querverlag Berlin „Selbsthass&Emanzipation“ Hrsg. Patsy L’Amour laLove , 260 S. Berlin, 2016

Ort: Schwules Museum Berlin Zeit: Donnerstag, den 22. September 2016 ab 19:00 Weiterlesen

Peter Kothe – Ein Ostwest-deutsches Leben

Die gleichnamige Ausstellung im Schwulen Museum Berlin (16.07. – 17.10.2016, Kurator: Wolfgang Theis) vermittelt einen eindringlichen und berührenden Eindruck vom schwulen Leben diesseits und jenseits der Berlin teilenden Mauer. Weiterlesen

Leseprobe: Impressionen unterm Bülowbogen

Sowohl der Anblick schmutzigen Schnees, als auch das Gefühl der Leichtigkeit beim Gehen sind dazu angetan, mich in Anspruch zu nehmen. Einmal auf der schiefen Bahn, kaum noch imstande, mich dagegen zu verwahren. Weiterlesen

Au Revoir. Auf wiedersehen im neuen Jahr. Queerer Rückblick und Vorausschau.

„Der Wahnsinn hat Methode, wenn er Realität wird“ – so Georg Diez, Spiegel-Online-Kolumnist, (nach Shakespeares Hamlet, 2. Aufzug, 2. Szene). Was sich bei Dirk Ludigs auf Siegessäule-Online, folgendermaßen liest:  Weiterlesen